PRINZIPIENETHIK, MORALISCHER KONFLIKT UND GÜTERABWÄGUNG
3.1
Prinzipien der Biomedizinischen Ethik
Tom Beauchamp und James Childress haben vier Prinzipien der Biomedizinischen Ethik definiert, die seither stark Anwendung finden. Der folgende Text fasst diese zusammen.
Die normativen Ethiktheorien, die Sie kennengelernt haben, sind teilweise sehr komplex und oft ist es eine grosse Herausforderung, sie auf konkrete ethische Themen in der Medizin und Psychotherapie anzuwenden. Dieses Problem wurde vor einigen Jahrzehnten von den amerikanischen Medizinethikern Tom Beauchamp und James Childress erkannt. In der Folge haben sie – ausgehend von bestehenden normativen Ethiktheorien – anwenderfreundliche Prinzipien für die klinische Praxis entwickelt: die «Prinzipien der Biomedizinischen Ethik».
Lesen Sie den folgenden Textauszug. Er wurde leicht adaptiert aus einem Buchkapitel übernommen (Trachsel, 2021).
Das Modell der Prinzipienethik ist als Orientierungsrahmen besonders attraktiv für die Medizinethik und damit auch für die Psychotherapie-Ethik, weil es für sich in Anspruch nimmt, grundsätzlich undogmatisch und offen gegenüber Verfechtern aller Ethiktheorien, liberal, transparent und rational zu sein. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Prinzipienethik von normativen Ethiktheorien wie der Deontologie oder dem Konsequentialismus.
Beauchamp und Childress (2013) führten vier grundlegende medizinethische Prinzipien ein, die sie als von den allermeisten Personen in allen Kulturen geteilt und somit als Bestandteile einer «allgemein geteilten Moral» (common morality) erachten:
1. Respekt vor Autonomie (autonomy):
Dieses Prinzip «beinhaltet die Verpflichtung, das Vermögen von Personen zu selbstbestimmten Entscheidungen anzuerkennen und zu fördern» (Rauprich 2005, S. 20).
2. Fürsorge/Wohltun (beneficence):
Dieses Prinzip beinhaltet die «positive Verpflichtung – also das Gebot –, Handlungen durchzuführen, die das Wohlergehen anderer Personen fördern, die andere Personen davor bewahren, Schaden zu erleiden, oder die einen erlittenen Schaden oder Nachteil anderer Personen wiedergutmachen oder kompensieren» (Rauprich 2005, S. 19). Das Fürsorge-Prinzip beinhaltet auch das Abwägen von Vor- und Nachteilen, von Wirkungen und Nebenwirkungen oder von Chancen und Risiken medizinischer respektive psychotherapeutischer Behandlungen mit dem Ziel, stets diejenige Handlungsoption zu wählen, die voraussichtlich am meisten Wohl für den Patienten hervorbringt.
3. Nichtschaden («primum non nocere», non-maleficence):
Dieses grundlegende Prinzip der Medizinethik «beinhaltet die negative Verpflichtung – also das Verbot –, Handlungen durchzuführen, die anderen Personen schaden» (Rauprich 2005, S. 20). Nach Beauchamp und Childress (2013) hat dieses Prinzip im Unterschied zum Fürsorge-Prinzip den Charakter, dass es universell angewendet werden kann. Das heißt, es ist grundsätzlich immer möglich, niemandem zu schaden, wohingegen es unmöglich ist, allen Menschen Gutes zu tun. Ein weiterer Unterschied zum Fürsorgeprinzip besteht darin, dass ein Verstoß gegen das Prinzip des Nichtschadens oft juristische Sanktionen rechtfertigt.
4. Gerechtigkeit (justice):
Dieses Prinzip «beinhaltet die Verpflichtung einer fairen Verteilung von Nutzen und Lasten im Gesundheitswesen» (Rauprich, 2005, S. 21).
Die vier Prinzipien bilden ein begriffliches Gerüst für die Darstellung und Analyse von Fällen. Es liegt in der Natur eines solchen Gerüsts, dass es der Anreicherung mit konkreten Inhalten bedarf, damit es nicht rein abstrakt bleibt. Bei der Beurteilung eines spezifischen medizinethischen Problems werden diese vier relativ abstrakten Prinzipien nun also zuerst mit Inhalt gefüllt und anschließend im Rahmen einer moralischen Güterabwägung gewichtet.
Quelle und Literatur
Trachsel, M. (2021). Ethik in der Psychotherapie. In Rief, W., Schramm, E., Strauss, B. (Hrsg.). Psychologische Psychotherapie – Ein kompetenzorientiertes Lehrbuch. München: Elsevier.
Beauchamp, T., Childress, J. (2013). Principles of biomedical ethics. Seventh Edition. Oxford University Press: Oxford.
Rauprich, O. Prinzipienethik in der Biomedizin – Zur Einführung (2005). In Rauprich, O., Steger, F. (Hrsg.). Prinzipienethik in der Biomedizin: Moralphilosophie und medizinische Praxis. S. 11–47. Campus Verlag: Frankfurt, New York.
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Universität Basel