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PRINZIPIENETHIK, MORALISCHER KONFLIKT UND GÜTERABWÄGUNG

3.5

Blick in die Geschichte

Wie hat sich die Berufsethik von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten entwickelt? Im folgenden Abschnitt vertiefen Sie sich in eine kurze Zusammenfassung.

Der folgende Text bietet einen Überblick über die historische Entwicklung der Psychotherapie-Ethik im 20. und 21. Jahrhundert. Der Text ist eine Zusammenfassung von Teilen eines englischsprachigen Buchkapitels von Carol Sinclair (2021).

Eine kurze Geschichte moderner Ethik der Psychotherapie


Die Ursprünge der modernen Psychotherapie werden häufig auf die Veröffentlichung der Studien über Hysterie von Josef Breuer und Sigmund Freud im Jahr 1895 zurückgeführt. Die in diesem Werk beschriebene Behandlungsmethode wurde zunächst als «Talking Cure» und später von Freud als «Psychoanalyse» bezeichnet. Im 20. Jahrhundert entwickelten sich die Ansätze zur Psychotherapie rasch weiter.

Eine im Oktober 2018 durchgeführte Suche in der Datenbank PsycINFO nach Literatur, die entweder den Begriff «professional ethics» oder «psychotherapy» enthält, ergab, dass die Zahl der Veröffentlichungen zur Psychotherapie im späten 19. Jahrhundert begann (22 Veröffentlichungen von 1883 bis 1899). Sie stieg im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts exponentiell an und setzte sich in den folgenden fünf Jahrzehnten fort (über 26.000 Veröffentlichungen von 1900 bis 1960). Der rasante Anstieg verlangsamte sich anschliessend leicht, verdoppelte und verdreifachte sich aber in den folgenden Jahrzehnten, sodass von 2000 bis 2018 fast 250.000 Veröffentlichungen zu verzeichnen sind.

Die Anzahl der Veröffentlichungen, die sowohl «psychotherapie» als auch «professional ethics» enthalten, folgt hingegen einem auffallend anderen Muster. Im 19. Jahrhundert gab es anscheinend keine einzige Veröffentlichung, die beide Begriffe enthielt. In den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, einer Zeit, in der sich die Psychotherapie rasch entwickelte, gab es insgesamt nur vier Veröffentlichungen. Erst ab 1950 erschienen regelmäßig Publikationen mit beiden Begriffen. Zunächst war die Zahl gering (im Durchschnitt vier oder weniger pro Jahr), bis in den 1970er-Jahren die Zahl der Veröffentlichungen um fast 600 % auf durchschnittlich 23 pro Jahr stieg. Die durchschnittliche Zahl der Veröffentlichungen pro Jahr, in denen beide Begriffe auftauchen, stieg von Jahrzehnt zu Jahrzehnt weiter deutlich an und liegt heute bei etwa 200 pro Jahr.

Wie lässt sich die nur sehr langsam wachsende Aufmerksamkeit für die Ethik der Psychotherapie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts trotz des schnellen Wachstums der Psychotherapie erklären? Interessanterweise zeigt sich, dass das Muster der Aufmerksamkeit für die Ethik der Psychotherapie nicht auf Psychotherapie beschränkt ist; es ist vielmehr dem Muster für «Berufsethik» (professional ethics) insgesamt sehr ähnlich, für die erst ab den 1950er-Jahren ein signifikantes Interesse entstand.

Bis 1940 hatte keiner der neueren Berufe des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts (z. B. Zahnmedizin, Krankenpflege, Psychologie und Sozialarbeit) formale Ethikkodizes entwickelt. Der Notwendigkeit von Ethikkodizes oder -richtlinien oder der Verantwortung eines Berufsstandes gegenüber der Gesellschaft, die Öffentlichkeit vor inkompetentem oder ethisch problematischem Verhalten zu schützen, wurde kaum Beachtung geschenkt. Vielmehr schien Ethik als «persönliche Angelegenheit» behandelt zu werden, mit der offensichtlichen Annahme, dass Angehörige jedes Berufsstandes Personen mit gutem moralischem Charakter sind, die sicher wissen, was richtig oder falsch ist, und sich entsprechend verhalten (Sinclair, 2017).

Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich diese Sichtweise grundlegend, als die Welt von den grauenhaften Experimenten erfuhr, die Ärzte an KZ-Häftlingen durchgeführt hatten (z. B. Lifton, 2000). Die Experimente führten häufig zu Langzeitschäden und sogar zum Tod, und die Versuchsteilnehmer hatten keine Wahl, ob sie daran teilnehmen wollten. Die Experimente wurden durchgeführt, obwohl die Ärzte den Hippokratischen Eid geschworen hatten. In ihrer Verteidigung an den Nürnberger Prozessen rechtfertigten sie diese Handlungen damit, dass die Opfer der Konzentrationslager keine Patienten seien und daher Kodizes wie der Hippokratische Eid nicht gelten würden. Sie argumentierten auch, dass die Experimente einen «Beitrag zum Wissen» darstellten und der Gesellschaft zugutekommen könnten. Außerdem verteidigten sie ihr Vorgehen mit dem Hinweis darauf, dass in anderen Teilen der Welt ähnliche Experimente durchgeführt worden seien.

Diese Tatsachen und Ereignisse waren ein Weckruf für die Welt. Eine unmittelbare Reaktion war der Nürnberger Kodex für Ethik in der medizinischen Forschung, der Grundsätze wie diese enthält: (i) die Notwendigkeit einer informierten Zustimmung (informed consent), (ii) die Verantwortung für die Abwägung von Risiken und Nutzen und (iii) die Unzulässigkeit, einem Individuum zum Nutzen der Gesellschaft Schaden zuzufügen.

Diese Tatsachen und Ereignisse waren jedoch auch ein Weckruf für die verschiedenen Berufsgruppen, indem sie das Bewusstsein dafür schärften, wie wichtig es ist, über Ethikkodizes zu verfügen, in denen die ethischen Grundsätze der jeweiligen Disziplin klar dargelegt und in denen Verhaltensregeln formuliert sind. Die Berufsethik wurde nicht mehr nur als persönliche Angelegenheit betrachtet, sondern als die Verantwortung des gesamten Berufsstandes. Die Verantwortung der Berufsangehörigen gegenüber denjenigen, denen sie dienen, und gegenüber der Gesellschaft im Allgemeinen wurde zu einem viel diskutierten Thema, und die neueren Berufe begannen in raschem Tempo, Ethikkodizes für ihre Mitglieder zu entwickeln.



Quellen

Lifton, R. J. (2000). The Nazi doctors: Medical killing and the psychology of genocide. New York, NY: Basic Books.

Sinclair, C. (2021). What do psychotherapists need to know about ethics? Lessons from the history of professional ethics. In Trachsel, M., Tekin, S., Gaab, J., Biller-Andorno, N., Sadler, J. Z. (Eds.). The Oxford Handbook of Psychotherapy Ethics. Oxford: Oxford University Press.

Sinclair, C. (2017). Ethics in psychology: Recalling the past, acknowledging the present, and looking to the future. Canadian Psychology, 58, 20–29.

Lizenz

Universität Basel