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PLACEBO UND PSYCHOTHERAPIE

7.3

The dance of specificity

Psychotherapie und Placebo können in ihrer Wirkung sehr ähnlich sein. Wie lässt sich damit in der empirischen und in der theoretischen Forschung umgehen?

Die Spezifität ist sowohl das goldene Kalb als auch das Menetekel der Interventionsforschung: Einerseits sollten beziehungsweise müssen Behandlungen sogar eine Wirkung haben, die über das, was im Placebo steckt, hinausgeht. Andererseits schliesst man damit viel aus, was eigentlich Wirkung hat. Auch hier hilft ein Rückblick: Mesmers animalischer Magnetismus wurde von Benjamin Franklin und seiner Kommission nicht verworfen, weil er keine Wirkung hatte, sondern weil diese Wirkung auch eingetreten ist, wenn gar kein animalischer Magnetismus eingesetzt wurde.

Das Placebo galt lange als «humble humbug», als etwas, was man einsetzen konnte, wenn alles andere nicht mehr half (Kaptchuk, 1998). Diese Sichtweise änderte sich spätestens nach Henry Beechers The powerful placebo (Beecher, 1955), mit dem das Placebo und seine Effekte aus der Ecke einer «nett, aber harmlos»-Behandlung geholt wurden. Heute wissen wir, dass Placeboeffekte gross und klinisch bedeutsam sind, sogar so gross und bedeutsam, dass es «echte» Medikamente im direkten Vergleich schwer haben, besser als eben diese Placebos zu wirken, so z. B. Schmerzmedikamente (Tuttle et al., 2015) oder Antidepressiva (Munkholm, 2019).

Wie sieht es aber hier bei der Psychotherapie aus? Die direkte Anwendung des «placebo-kontrollierten Designs» aus der Medizin auf die Psychotherapie ist mit theoretischen wie auch pragmatischen Problemen konfrontiert. Aus theoretischer Sicht sind Psychotherapie und Placebo entweder synonym und damit wäre das Wort «Psychotherapie-Placebo» eine Tautologie, da beide Interventionen vollumfänglich aus psychologischen Wirkfaktoren bestehen. Oder es handelt sich hier um ein Oxymoron, d. h. das Placebo wäre eine «leere Täuschung», die Psychotherapie hingegen «echt und wahr» (Kirsch, 2005).

Zudem stellt sich die pragmatische Frage, was man sich eigentlich unter einem Psychotherapie-Placebo vorstellen kann. In der medizinisch-pharmakologischen Interventionsforschung ist das noch einigermassen klar: Das Placebo sieht genauso aus wie das Medikament, enthält aber keinen aktiven Wirkstoff. Für die Psychotherapie hingegen ist das ungemein schwieriger, da das dem «placebo-controlled trial» zugrundeliegende Verständnis des «zufällige Bestandteile kontrollieren, charakteristische Bestandteile manipulieren» nicht so einfach umsetzbar ist.

Was sind in der Psychotherapie die zufälligen und die charakteristischen Bestandteile? Die psychotherapeutischen Ansätze, Schulen und Theorien unterscheiden sich hier deutlich, aber wenn man das oben eingeführte kontextuelle Verständnis als kleinsten gemeinsamen Nenner der zufälligen Bestandteile definiert, dann haben wir eine Grundlage, um die Frage nach der Spezifität in der Psychotherapie zu beantworten. Es zeigt sich hier, dass die Unterschiede zwischen «Placebo»- und «echter» Psychotherapie immer dann (in der Regel mit mittlerer Effektstärke, d≈0.5) beobachtbar sind, wenn in den Placebo-Psychotherapien nicht alle der im Kontextmodell aufgeführten Bedingungen umgesetzt wurden, dass aber diese Unterschiede sehr klein und damit klinisch unbedeutend waren (in der Regel unter einer kleiner Effektstärke, d<0.2) (Baskin et al., 2003; Locher et al., 2016).

Häufig werden die Placebo-Psychotherapien durch bestimmte Einschränkungen deutlich benachteiligt. Dies betrifft zum einen die durchgeführten Interventionen selbst, bei denen Patient:innen beispielsweise nicht über das vorliegende Problem sprechen dürfen, bei denen keine Gefühle thematisiert werden, die für Patient:innen nicht plausibel sind, bei denen kein therapeutisches Ziel definiert wird oder bei denen sich Dauer, Frequenz und Setting von der «echten» Psychotherapie deutlich unterscheiden (Locher et al., 2018).

Diese Einschränkungen führen nicht nur zu einer falschen Spezifität, sondern vermitteln auch ein bedenkliches Verständnis der Psychotherapie: Wenn man beispielsweise das Ansprechen von Problemen in der Placebo-Psychotherapie ausschliesst, definiert man dieses «Ansprechen von Problemen» tatsächlich als charakteristisch für die Psychotherapie. Aber ist das wirklich der Fall? Sprechen wir nicht auch mit unseren Freunden über Probleme? Wird in der Seelsorge nicht auch über Probleme gesprochen? Ist das dann alles Psychotherapie? Und wenn das Ansprechen von Problemen von den betreffenden Psychotherapieschulen als charakteristisch angesehen wird, warum ist das dann in den betreffenden Behandlungstheorien nicht auch so definiert?

Als weitere Einschränkung ist die sogenannte «Researcher Allegiance» zu nennen. Darunter versteht man die Neigung von Forschenden, ihre eigenen Theorien und Psychotherapien in den eigenen Studien zu begünstigen, sei dies über die Ausbildung und Supervision der eigenen Studien-Psychotherapeut:innen, die Auswahl der Erfolgsmasse oder die Interpretation der Ergebnisse. Diese Allegianz hat sowohl einen deutlichen Einfluss auf die Ergebnisse der Psychotherapieforschung (Gerger & Gaab, 2016) als auch auf deren statistische Kontrolle, was dazu führt, dass die Unterschiede zwischen Psychotherapien (Imel et al., 2008; Miller et al., 2008) als auch zwischen Psychotherapien und Placebotherapien (Cuijpers et al., 2012) verschwinden.

In Anbetracht der empirischen Ergebnisse dreht sich das Bild: Es lassen sich im Vergleich zwischen Psychotherapien sowie zwischen Psychotherapie und Placebotherapie – sofern fair konzipiert – keine Unterschiede feststellen; das vormals angenommene Spezifische – die Methoden, Techniken und theoriegeleiteten Vorgehensweisen – sind das eigentlich Zufällige und das vormals angenommene Zufällige ist das Charakteristische. In Anlehnung an Saul Rosenzweig (s. o.) könnte man das so ausdrücken: «Wenn eine Psychotherapie eine emotionale und vertrauliche Beziehung sowie ein für die Patient:in plausibles und annehmbares Erklärungsmodell und Vorgehen anbietet, dann ist es eigentlich egal, um welches Erklärungsmodell und Vorgehen es geht». Diese Perspektive stellt nicht die Wirkung der Psychotherapie infrage, sondern bietet dafür eine Erklärung, die mit den Ergebnissen der Psychotherapieforschung in Einklang steht.



Quellen

Baskin, T. W., Tierney, S. C., Minami, T., Wampold, B. E. (2003). Establishing specificity in psychotherapy: A meta-analysis of structural equivalence of placebo controls. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 71, 973–979. doi: 10.1037/0022-006X.71.6.973

Beecher, H. K. (1955). The powerful placebo. Journal of the American Medical Association, 159, 1602–1606. doi: 10.1001/jama.1955.02960340022006

Cuijpers, P., Driessen, E., Hollon, S. D., van Oppen, P., Barth, J., Andersson, G. (2012). The efficacy of non-directive supportive therapy for adult depression: A meta-analysis. Clinical Psychology Review, 32, 280–291. doi: 10.1016/j.cpr.2012.01.003

Gerger, H., & Gaab, J. (2016). Researcher allegiance as hidden moderator in psychotherapy research. Verhaltenstherapie, 26, 41–45. doi: 10.1159/000443543

Imel, Z. E., Wampold, B. E., Miller, S. D., Fleming, R. R. (2008). Distinctions without a difference: direct comparisons of psychotherapies for alcohol use disorders. Psychol. Addict. Behav. 22:533. doi: 10.1037/a0013171

Kaptchuk, T. J. (1998). Powerful placebo: The dark side of the randomised controlled trial. Lancet, 351, 1722–1725. doi: 10.1016/S0140-6736(97)10111-8

Kirsch, I. (2005). Placebo psychotherapy: Synonym or oxymoron? Journal of Clinical Psychology, 61, 791–803. doi: 10.1002/jclp.20126

Locher, C., Gaab, J., Blease, C. (2018). When a Placebo Is Not a Placebo: Problems and Solutions to the Gold Standard in Psychotherapy Research. Front. Psychol. 9:2317. doi: 10.3389/fpsyg.2018.02317

Locher, C., Hasler, S., Gaab, J. (2016). When do psychotherapeutic placebos work? A critical review on the example of systematic desensitization. Verhaltenstherapie, 26, 9–20. doi: 10.1159/000443464

Miller, S., Wampold, B., Varhely, K. (2008). Direct comparisons of treatment modalities for youth disorders: a meta-analysis. Psychother. Res. 18, 5–14. doi: 10.1080/10503300701472131

Munkholm, K., Paludan-Müller, A. S., Boesen, K. Considering the methodological limitations in the evidence base of antidepressants for depression: a reanalysis of a network meta-analysis. BMJ Open 2019;9:e024886. doi: 10.1136/bmjopen-2018-024886

Tuttle, A. H., Tohyama, S., Ramsay, T., Kimmelman, J., Schweinhardt, P., Bennett, G. J., Mogil, J. S. Increasing placebo responses over time in U.S. clinical trials of neuropathic pain. Pain. 2015 Dec; 156(12), 2616–2626. doi: 10.1097/j.pain.0000000000000333. PMID: 26307858