ERKLÄRUNGSMODELL
4.1
Ein biopsychosoziales Erklärungsmodell des Chronic Fatigue Syndromes
Wie können wir diese chronische und starke Erschöpfung und all die anderen dabei auftretenden Symptome erklären?
Wir müssen zunächst beachten, dass Erschöpfung als unspezifisches Symptom bei fast allen medizinischen Erkrankungen und auch bei sehr vielen psychischen Störungen auftritt und dementsprechend eine angemessene differentialdiagnostische Abklärung immer notwendig ist. Bei der Betrachtung des vorliegenden Falles gehen wir also davon aus, dass diese Abklärungen bereits getroffen wurden.
Ausgangspunkt ist eine persistierende Symptomatik, die nach einer Infektion anfing und den Patienten in hohem Masse beeinträchtigt. Der Patient sieht einen pathophysiologischen Prozess als Ursache seiner Beschwerden und weisst eine massgebliche psychische Genese von sich. Er wirkt verbittert und hoffnungslos, weisst aber keinen bei der Depression sonst so typischen Selbstbezug auf, das heisst, für seine Misere ist der Körper schuld, nicht er selbst. Damit haben wir schon einige charakteristische Merkmale: Einerseits die Symptomatik, die als unkontrollierbar und einschränkend erlebt wird und andererseits die Annahme einer mehr oder weniger somatischen Ursache.
Welche Konsequenzen haben diese beiden Faktoren? Die Annahme des Patienten, dass seine Beschwerden auf somatische Ursachen zurückzuführen sind, erscheint auf den ersten Blick plausibel und ist wahrscheinlich aus einer bestimmten Perspektive richtig: Er hat schwere und chronische körperliche Beschwerden, die weder eingebildet noch simuliert sind (sonst hätten wir es mit einer anderen Störung zu tun, schauen Sie mal in DSM-5, welche es dann wäre). Zudem gibt es Hinweise auf somatische Prozesse, die an der Symptomatik beteiligt sind (dazu später mehr).
Aber ist die Ausschliesslichkeit dieser somatischen Begründung gerechtfertigt und sinnvoll? Die Annahme eines somatischen Defekts hat zwar den positiven Effekt, mögliche Selbstzweifel zu vermeiden und die Umgebung, dass heisst Freunde, Kollegen, Ärzte und Arbeitgeber, davon zu überzeugen, dass mit «einem selbst» nichts falsch ist, aber sie führt auch dazu, einen vermehrten Fokus auf die somatischen Symptome zu haben und dadurch die Auftretenswahrscheinlichkeit und Intensität zu verstärken.
Man nennt diesen Mechanismus somatosensorische Amplifikation. Machen Sie dazu mal einen Selbstversuch. Dieser somatische Fokus führt zu einer spezifischen Reaktion auf die erlebten Beschwerden. Wenn Sie beispielsweise annehmen, dass Sie erschöpft sind, weil Ihr Immunsystem einen gravierenden Defekt hat, dann werden Sie sich anders verhalten und andere Behandlungsansätze ausprobieren, als wenn Sie nach einer anstrengenden Tätigkeit oder Zeit – zum Beispiel nach einer langen Wanderung oder einer stressigen Prüfung – erschöpft sind. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Inaktivität, die zwar kurzfristig zur Kontrolle und Minderung der Symptombelastung führt, die aber mittel- und langfristig über zunehmende physiologische Dekonditionierung eben diese Beschwerden aufrechterhält. Dies lässt sich an einem Gedankenexperiment besser veranschaulichen.
Nachdem Sie nun mit dem somatischen Krankheitsmodell und dessen kognitiven, emotionalen und verhaltensmässigen Folgen die massgeblichen aufrechterhaltenden Prozesse kennengelernt haben, gehen wir einen Schritt zurück und betrachten den Beginn der Beschwerden und was davor war. Betroffene Patienten berichten oft von akuten Auslösern, wie beispielsweise einer Infektion. In unserem Beispiel verlief dieses Initial zwar normal, ging dann aber einfach nicht mehr weg. Um dann den Anschluss an das normale Leben nicht zu verlieren, kommt es zu sogenannten bursts of activity. Dabei werden Tage, an denen es ein bisschen besser geht, dazu genutzt, verlorene Zeit wieder aufzuholen. In Folge kommt es zu einem verhängnisvollen Wechselspiel von Überforderung und anschliessender Erschöpfung, was letztendlich in der zunehmenden Überzeugung mündet, dass da doch etwas im Körper nicht mehr stimmt. Das heisst, es kommt zur Ausbildung eines somatischen Krankheitsmodells.
Aber warum kommt es dazu? Hier wird es nun etwas komplexer, nicht zuletzt weil prädisponierende Risikofaktoren ins Spiel kommen. An Patientenberichten - wie auch in unserem Beispiel - fällt auf, dass die frühere Person und Persönlichkeit als sehr aktiv beschrieben wird, quasi als Gegenteil des jetzigen Zustands. Dies lässt sich bestimmt auch von vielen Personen behaupten, die dann keine Erschöpfung erleben. Aber was hier dazukommt, ist die Beobachtung, dass sich diese ganze Aktivität und Leistungsorientierung auf der Befürchtung gründet, dass man bei fehlender Leistung nicht genügt. Dies bedeutet, dass man Leistung und Aktivität nicht nur deswegen erbringt, weil man es möchte und weil es Spass bereitet, sondern weil man mit dieser Leistung und Aktivität die Ablehnung durch Andere vermeiden kann. Was sich hier zeigt, ist etwas sehr Grundlegendes und auch sehr Schwieriges: Die Beurteilung der eigenen Person ist stark abhängig von der Anerkennung durch Andere. Das führt einerseits dazu, dass eigene Leistungsgrenzen in schwierigen Lebensphasen überschritten werden und dadurch die Entstehung von stressbedingten Symptomen und Prozessen – wie Erschöpfung, Schlafstörungen und ein geschwächtes Immunsystem – begünstigt werden. Andererseits kann damit aber auch erklärt werden, warum Betroffene so sehr auf ein somatisches Krankheitsmodell fokussiert sind. Dieses ist dann zwar entlastend für die betroffene Person in ihrem sozialen Kontext, aber begünstigt dann auch die beschriebenen aufrechterhaltenden Prozesse.
Die beschriebenen prädisponierenden Aspekte der Persönlichkeit lassen sich auf dem Hintergrund von Studien, die die frühen Entwicklungsbedingungen von Patienten mit chronischer Erschöpfung untersuchten, besser verstehen. Und hier bekommt das Ganze eine durchaus tragische Note: Es zeigte sich, dass viele Betroffene in ihrer Kindheit sehr ungünstigen Entwicklungsbedingungen ausgesetzt waren. Dies ging über emotionalen, körperlichen bis hin zu sexuellem Missbrauch, wobei interessanterweise gerade die emotionale Vernachlässigung – also das Alleingelassenwerden mit negativen Gefühlen, das Nichtansprechenkönnen von eigenen Problemen – sich hier als besonders bedeutsam zeigte.
Damit haben wir also aus einer psychosozialen Perspektive einen full circle beschrieben: Die frühen Erfahrungen führen zu einer Persönlichkeit, die Probleme damit hat, einen eigenständigen Selbstwert zu entwickeln und versucht, diesen durch Leistung aufrechtzuerhalten. Wenn diese Leistung nicht mehr erbracht werden kann – in unserem Fall aufgrund der körperlichen Symptome – muss die Eigenverantwortung daran zugunsten einer somatischen Erklärung abgelehnt werden. Damit bewahrt man zwar seinen psychischen Status Quo, ist aber in einem aufrechterhaltenden Mechanismus gefangen. Wie äussert sich das auf der somatischen Ebene? Sehen Sie hierzu das Video zur biologischen Perspektive an.
Links
Falkai, Peter u. Wittchen, Hans-Ulrich (Hrsg.) (2015). Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5. Göttingen, Hogrefe.
Heim, Christine et al. (2006). Early Adverse Experience and Risk for Chronic Fatigue Syndrome.
Results From a Population-Based Study. Archives of General Psychiatry, 63(11): 1258-1266.
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