BEHANDLUNG
5.1
Der weitere Therapieverlauf
Fallbericht einer Therapie
Die Arbeit
Ein wiederkehrendes Thema in den folgenden Sitzungen war die Frage, ob die Therapie «etwas bringe». Diese Frage wurde stets im anklagenden Ton vorgebracht. Obwohl die Gespräche gemäss der Patientin eine «beruhigende Wirkung» hatten und sie besser schlafen konnte, ging es ihr körperlich immer noch schlecht. Zwei Punkte waren in unseren Gesprächen zentral: Erstens, was bedeutet es, auf sich selbst zu hören und auf die eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu achten? Zweitens, wie viel Zeit braucht es, bis eine Therapie anschlägt und spürbare Veränderungen auftreten? Im Gespräch fanden wir heraus, dass die Patientin ihre eigenen Grenzen und ihre Leistungsfähigkeit seit Kindheit zu wenig beachtet hatte und enttäuscht war, wenn andere ihre Anstrengungen nicht bemerkten. Aus diesem Grund fühlte sie sich oft zu wenig wertgeschätzt von ihrem sozialen Umfeld. Diesen Umstand drückte die Patientin in Sätzen wie «Ich mach’ doch schon alles, was ich kann, reicht das euch nicht?» aus. Auf die Frage, ob sie glaube, dass auch ich sie zu wenig wertschätze, antwortete sie mit «ja» und fügte hinzu: «Bestimmt denken auch Sie, ich sei einfach eine faule Hysterikerin, die ihr Leben nicht in den Griff bekommt.»
Diese negativen Sichtweisen, mit der die Patientin sich selbst, die Therapie und auch mich als Therapeuten abwertete, machten deutlich, dass der Patientin ein gesundes Selbstwertgefühl fehlte und sie oft am eigenen Ehrgeiz scheiterte. Ihr Ehrgeiz zeigte sich auch daran, dass sie sich höchstens zwei Jahre für die Genesung von der seit bald vier Jahren dauernden Krankheit gab. Sie sei ein ungeduldiger Mensch, erklärte sie mir, was ich gut verstehen konnte.
Der Aufbau
Im Laufe der ersten zehn Sitzungen wurde die Patientin ruhiger und war weniger wütend. Sie sprach vermehrt Selbstzweifel und Ängste aus und forderte aktiv Rückmeldungen zu diesen Themen ein. Ihre körperliche Befindlichkeit änderte sich aber nicht. Irgendwann machte sie den überraschenden Vorschlag, mit Yoga anzufangen. Nach der ersten Stunde berichtete sie davon, dass sie die anderen Frauen bei den Übungen eifersüchtig beobachtet hatte, bis sie eine Frau entdeckt hatte, der die Übungen noch schwerer fielen als ihr. In den folgenden Tagen hatte die Patientin heftige Muskelschmerzen, was sie auch in der Sitzung thematisierte. Ich nahm an, dass die Schmerzen eine Folge der langen sportlichen Inaktivität waren. Ich empfahl ihr, mit der Yogalehrerin über die Schmerzen zu sprechen. Der Betätigungsdrang der Patientin nahm in der kommenden Zeit stetig zu, und es wurde eher meine Aufgabe, sie zu bremsen, als sie zu weiteren Aktivitäten zu ermutigen. Sie gewann dadurch an Kraft und Motivation. Obwohl es ihr körperlich noch immer nicht gut ging und sie oft erschöpft war, hatte sie Phasen, in denen sie ihren Zustand als «OK» beschrieb. Gleichzeitig knüpfte die Patientin im Yoga neue Bekanntschaften und begann – wenn auch noch in geringem Masse – sich wieder mit Freundinnen zu treffen und auszugehen.
Der Virus
Sechs Monate nach Beginn der Therapie erschien eine erkennbar wütende Patientin bei mir in der Praxis. Aufgebracht erzählte sie mir, dass es ihr schlecht gehe und ich dafür die Verantwortung zu tragen habe. Auf meine Frage, was denn genau vorgefallen sei, antwortete sie: «Dass Sie das nicht mal mitbekommen haben, spricht Bände». Ich war verunsichert und wollte wissen, was sie damit meine. Sie erzählte, dass in der CFS-Community, deren Aktivitäten sie rege im Internet verfolge, zurzeit neue, in ‹Science!› publizierte Forschungsbefunde euphorisch gefeiert werden. Die Forscher hätten herausgefunden, dass CFS von einem gefährlichen Virus verursacht wird, der sogar Krebs auslösen könne. Das Ganze sei nicht wirklich beruhigend, fuhr sie fort, aber wenigstens wisse sie nun, dass sie etwas «Echtes» habe, eine Krankheit, gegen die eines Tages hoffentlich eine wirksame Therapie gefunden werde.
Ich musste zugeben, dass ich diese Befunde nicht kannte und deswegen nicht beurteilen konnte, was dies nun für ihre Krankheit und unsere Therapie bedeutete. Sie schaute mich lange an und antwortete: «Na ja, eine Virusinfektion kann man nicht mit Yoga und Gesprächen behandeln, oder?» Ich schwieg und erwiderte, dass ich spüre, dass sie wütend auf mich sei. «Weshalb?», wollte ich wissen. Natürlich war mir klar, dass die Patientin dachte, dass die Gesprächstherapie eine reine Zeitverschwendung gewesen war. Für sie waren die Befunde eine Erleichterung, weil sie ihren eigenen Aussagen zufolge, die «Schuld für ihr Versagen» einem Virus in die Schuhe schieben konnte. Bislang hatte ihr niemand geglaubt, dass ihr Leiden «echt» und nicht bloss simuliert war, selbst ihre Familie zweifelte daran und wandte sich von ihr ab. Die Patientin hatte sich dafür geschämt, endlich aber gab es eine Erklärung für ihre Krankheit. Mit dem Nachweis des Virus’ verband sie ein Recht auf Anerkennung ihres Zustands von ihrem sozialen Umfeld. Die bisherigen Verbesserungen durch die Psychotherapie blendete sie vorerst aus.
Aufgrund meiner Nachfragen wurde ihr jedoch bewusst, dass sich ihr Zustand dank den Sitzungen verbessert hatte und sie nun die Verantwortung übernehmen musste, aus ihrer «Kummerecke» herauszukommen. Mit diesem Ausdruck bezeichnete sie ihre ablehnende Haltung gegenüber sich selbst und anderen. Die Patientin entschied sich dazu, weiterhin Yoga zu betreiben und in die Therapie zu kommen. Zudem wollte sie klärende Gespräche mit ihrer Familie führen.
In den folgenden Wochen stellte sich heraus, dass sie das betreffende XRM-Virus nicht hatte und sich die ganze Virus-Geschichte als ein wissenschaftlicher Irrtum erwiesen hatte (Gaab, 2011).
Link
Gaab, Jens (2011). Suche nach der Ursache des chronischen Erschöpfungssyndroms. Eine Geschichte mit Fortsetzung. Psychotherapeut 56: 211–215.
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