DAS BESSERE BILD CHRISTI
1.2
Christus erkennen
Was Erasmus mit seiner Ausgabe erreichen wollte
Der Ausstellungstitel «Das bessere Bild Christi» folgt einem Diktum des Erasmus, der wiederholt festhielt, die Schriften des Neuen Testaments böten ein getreueres, ja gar anschaulicheres Bild von Jesus Christus als alle Werke der bildenden Kunst.
In seinem berühmten satirischen Werk Lob der Torheit mokiert Erasmus sich darüber, «dass man ein Bildchen, das mit Kohle an eine Wand gezeichnet ist, mit derselben Verehrung anbeten muss wie Christus selbst, sobald darauf zwei ausgestreckte Finger und wallende Locken und im Heiligenschein am Hinterkopf drei Strahlenbündel zu sehen sind» – ein Bildtypus, der sich auch heute noch einer gewissen Beliebtheit erfreut.
Erasmus missbilligte die Verehrung von Bildern nicht grundsätzlich, aber er war überzeugt, dass das bessere Bild Christi in den Texten des Neuen Testaments überliefert sei. So sagte er in einer anderen Schrift: «Du erweist also einem grob in Stein oder Holz gehauenen oder mit Farben gepinselten Abbild des Antlitzes Christi Ehre. Viel frömmer wäre es, das Bild seines Geistes zu ehren, das durch den Heiligen Geist in den Schriften des Evangeliums wiedergegeben ist. Kein Apelles [der berühmteste Maler der Antike] bildet so mit dem Pinsel die Züge und die Gestalt des Körpers nach, wie uns in der Rede eines jeden das Bild seines Geistes entgegenleuchtet, zumal bei Christus. Da er die höchste Wahrheit ist, kann es keine Unähnlichkeit zwischen dem Urbild des göttlichen Herzens und dem davon hergeleiteten Bild der Rede geben. … Du glaubst, es sei das Grösste, dass du zu Hause ein Stücklein des Kreuzes besitzest. Doch das ist nichts im Vergleich dazu, dass du das Geheimnis des Kreuzes in dir trägst.»
Hinter dem hier abgekürzt zitierten Text stehen drei Grundüberzeugungen des Erasmus, nämlich zum ersten die sogenannte Christus/Logos-Theologie, die am besten vom Anfang des Johannesevangeliums bekannt ist: «Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.» Erasmus führt aus, dass demnach Jesus Christus als Gottes Sohn ebenso auch Gottes ‛Wort’ ist. Der griechische Begriff logos hat allerdings ein viel breiteres Bedeutungsspektrum als das deutsche Wort oder auch das lateinische verbum, durch die logos normalerweise wiedergegeben wird. Erasmus zog hier wie im oben zitierten Text das lateinische sermo (Sprache, Gespräch, Rede) vor, das besser als verbum zum Ausdruck bringt, dass Gott die Menschen eben an-spricht: in seiner ‛Rede’ offenbart er sich ihnen. Die heiligen Schriften – Erasmus nennt sie «geheimnisvoll» – müssen Begriffe aus unserer Wahrnehmungswelt benützen, um das Unvorstellbare darzustellen. Und wie also Gott in den Schriften des Alten und Neuen Testaments den Menschen mit seinem Wort das Unsagbare mitteilen will, so will er ihnen in Gestalt seines Sohnes das Unfassbare begreiflich machen.
Eng damit zusammen hängt der zweite Gedanke: Für Erasmus ist der innere Mensch, nicht seine äussere Erscheinung, der eigentliche Mensch, und sein Wesen offenbart sich in seiner Rede (lateinisch sermo).
Dazu erzählt er die Anekdote von Sokrates, der, um sein Urteil über einen jungen Mann gebeten, diesem befiehlt: «‘Sprich also, junger Mann, damit ich dich sehe’, womit er ausdrückte, der Charakter des Menschen trete weniger im Gesicht als in der Rede hervor, weil das der zuverlässigste und am wenigsten trügerische Spiegel der Seele sei.» Ein gemaltes Porträt oder eine Statue, die immer nur die äussere Erscheinung wiedergeben können, werden also nie ein so adäquates Bild eines Menschen vermitteln wie seine sprachlichen Äusserungen, die uns sein Inneres, sein Wesen offenbaren. Folgerichtig liess Erasmus auch auf seinen eigenen Porträts einen ‛Vorbehalt’ anbringen.
Sowohl auf der Medaille von Quentin Massys als auch auf dem Stich von Albrecht Dürer steht die Inschrift: ΤΗΝ ΚΡΕΙΤΤΩ ΤΑ ΣΥΓΓΡΑΜΜΑΤΑ ΔΕΙΞΕΙ. (Tēn kreittō ta syngrammata deixei.) «Das bessere [Bild] werden die Schriften zeigen.» Diesen Gedanken haben seine Freunde dann auch in der Inschrift auf seinem Grabmal aufgenommen (s. Einleitung Kap. 1.1 und Kap. 5.1.14).
Drittens war Erasmus der Überzeugung, dass Bildung wesentlich durch Nachahmung eines Vorbildes entstehe. Angesichts der Bedeutung, die Erasmus der Sprache beimisst, erstaunt es nicht, dass er dazu mehrfach einen Vers von Menander zitiert, den auch Paulus im 1. Korintherbrief anführt (15,33): «Schlechte Gespräche (d.h. schlechter Umgang) verderben einen guten Charakter.» Neutral formuliert er es selbst in der Paraclesis, einer der Einleitungsschriften zum Novum Instrumentum: «Wir werden in der Regel zu dem, woraus unsere täglichen Gespräche bestehen.» Das heisst, wer ein christliches Leben führen will, muss das Gespräch mit Jesus suchen. Und wo ginge das besser als im Neuen Testament?
Erasmus wollte allen den direkten Zugang zur Botschaft Christi ermöglichen, denn so habe es auch Christus selber gewollt: «Christus wollte seine Geheimnisse überall verbreitet wissen. Ich wünschte, dass alle Frauen das Evangelium und auch die paulinischen Briefe lesen würden.» Erasmus nennt also die Frauen explizit als Zielpublikum; sie sind bei ihm nicht ‛mitgemeint’. Die Empörung der Kleriker liess nicht auf sich warten, wie Erasmus in einem Brief an einen Freund ironisch bemerkt. Überhaupt stellt er deren Deutungshoheit ganz grundlegend in Frage: Getreu dem humanistischen Leitspruch Ad fontes! («Zu den Quellen!») ist Erasmus überzeugt, dass das Bild und die Botschaft Christi im Lauf der langen Überlieferung zunehmend quasi ‛gepanscht’ worden seien. Nicht aus den Rinnsalen und Pfützen der zeitgenössischen Theologie sollen die Gläubigen trinken, sondern aus dem ursprünglichen Quell, dem Neuen Testament. So können sie Bild und Botschaft Christi verinnerlichen und seine Nachfolge leben. Und uns erschliesst sich jetzt die ganze Bedeutung des bereits zitierten Satzes: «Du glaubst, es sei das Grösste, dass du zu Hause ein Stücklein des Kreuzes besitzest. Doch das ist nichts im Vergleich dazu, dass du das Geheimnis des Kreuzes in dir trägst.»
Quellenangaben
Die Ausführungen in diesem Kapitel basieren auf: Ueli Dill, «Einleitung», in: Ueli Dill, Petra Schierl (Hg.), Das bessere Bild Christi: Das Neue Testament in der Ausgabe des Erasmus von Rotterdam (Kat. Ausst. Basler Münster 2016, 2. Aufl. 2017), Basel 2016/2017, S. 12–16.