DIE AUSSTELLUNG
5.2
Danke, Erasmus!
Ein unwissenschaftlicher persönlicher Brief
Lieber Erasmus,
Ob das «Echo über Jahrhunderte» auch andersherum funktioniert und es Dich irgendwo irgendwie noch erreicht, wie sehr das Wort Deiner Freunde auf Deinem Grabstein, Du werdest durch Deine Schriften zu allen Zeiten überall zu den Menschen sprechen, sich immerhin schon fünf Jahrhunderte lang bewahrheitet hat? Du hast allen, die zur Jubiläumsausstellung und zum Katalog über Dein Novum Instrumentum beigetragen haben, und ebenso zahlreichen Besuchern und Leserinnen viele spannende, intensive und auch schöne Momente und Gespräche beschert, und in ihrer aller Namen danke ich Dir von Herzen dafür.
Erasmus: Ich freue mich, dass ich Dich einfach so anreden darf, denn das Lateinische, die Sprache, in der Du Deine Werke und Briefe verfasst hast, kennt keine Höflichkeitsform. Was natürlich nicht heisst, dass es keine Möglichkeiten bietet, Ehrerbietung auszudrücken – und schon sind wir mitten in einem Thema, das Dich zeit Deines Lebens intensiv beschäftigte: Sprache, Grammatik und Stil. Tatsächlich ist mir der erste Satz von Dir, der mir tiefen und bleibenden Eindruck machte, im Grammatikunterricht begegnet: Vix ulla tam iniqua pax, quin bello vel aequissimo sit potior. «Es gibt kaum einen Frieden, der so ungerecht ist, dass er nicht selbst dem gerechtesten Krieg überlegen wäre.» Ein Satz aus Deiner Klage des Friedens, über den es sich auch heute noch lohnt nachzudenken. Wenige Jahre zuvor war Alexander Stewart, einer Deiner liebsten Freunde, in der Schlacht von Flodden Field gefallen. Du hattest den unehelichen Sohn des schottischen Königs James IV. als Deinen Schützling und Studenten durch Italien begleitet. Beim Abschied schenkte er Dir seinen Siegelring. Dessen Motiv machtest Du zu Deinem Wahrzeichen, dem Bild des Terminus mit der Inschrift Cedo nulli («Ich weiche keinem»); dem Freund hast Du in den Adagia ein literarisches Denkmal gesetzt. Im gleichen Werk hast Du Dich auch nochmals dezidiert und ausführlich gegen den Krieg ausgesprochen, unter dem Titel: Dulce bellum inexpertis, «Süss (erscheint) der Krieg denen, die ihn nicht erlebt haben».
Freilich, wenn man Dich heute ‛googlet’, erhält man als erstes Resultat nicht Informationen über Dich, sondern über das nach Dir benannte europäische Studien-Austauschprogramm; immerhin erscheint auch gleich ein Bild von Dir. Das zeigt, wie richtig die Verfasser Deines Epitaphs lagen, die sagten, Du bräuchtest kein Grabmal, damit man sich an Dich erinnere. Das Erasmus-Programm trägt zu Recht Deinen Namen: Geboren und aufgewachsen in Holland, hast Du ausser dort in Frankreich, England, Italien und Deutschland gelebt – heimisch geworden bist Du, wie sonst nirgends, hier in Basel. Du hast also ein wahrhaft europäisches Leben gelebt. Das lag sicher auch daran, dass Du Dich nicht in ein gemachtes Nest setzen konntest, denn eigentlich hätte es Dich, den unehelichen Sohn eines Priesters, gar nicht geben dürfen. Du hast aber eine gute Erziehung und Bildung bekommen und Dir ausgezeichnete Lateinkenntnisse angeeignet. Aber gerade als Du ein Universitätsstudium beginnen solltest, fielen Deine beiden Eltern einer Epidemie zum Opfer. Du wurdest Augustiner-Chorherr und empfingst 1492 die Priesterweihe. Dann aber hast Du das Kloster verlassen, denn mit dem Latein hattest Du die Liebe zur antiken Literatur entdeckt und sehntest Dich nach einer weiteren geistigen Welt.
Ich möchte hier aber weder Deine Lebensgeschichte erzählen noch Werke aufzählen, sondern Dir danken für alles, wodurch Du, wie es in Deiner Grabinschrift steht, «solange der Erdkreis besteht, weiterleben und mit den Gebildeten überall auf der Welt sprechen» wirst – Deine Schriften nämlich. Und besonders auch für das, was mich immer, wenn ich mich mit Dir beschäftige, wieder beeindruckt und berührt: Was Du gewagt und auf Dich genommen hast, um Dich dem widmen zu können, was Dir am Herzen lag. Du hast die materielle und immaterielle Sicherheit des Klosters verlassen und Dich, wie man heute vielleicht sagen würde, ‘selbst erfunden’, musstest dies auch, da es für Dich keine selbstverständliche Zugehörigkeit gab. In Basel bist Du heimisch geworden, hast es aber schweren Herzens 1529 verlassen, um Deinen Weg weiterzugehen, denn der Reformation konntest Du Dich nicht anschliessen. Ich war immer froh, dass Du schliesslich doch wieder zurückgekehrt bist und Deine letzten Monate im Kreise Deiner liebsten Freunde hier verbringen konntest.
Reich hast Du uns beschenkt mit Deinen Schriften, von denen zahlreiche noch heute nachgedruckt und neu herausgegeben werden. Nach wie vor finden wir Bedenkenswertes darin, und auch nicht wenig, was uns grosses Vergnügen bereitet. Und immer ist es einfach eine Freude, Dein Latein zu lesen, die treffsicheren und schönen Formulierungen zu geniessen. Freilich waren Sprache und Stil, so sehr Du Dich darum bemühtest, nie einfach Selbstzweck für Dich. Du konntest Deine Feder durchaus als scharfe Klinge führen, wenn es erforderlich war, und das war es öfter, als Dir lieb war: Du sagtest einmal, wenn Du gewusst hättest, welche Kontroversen Du würdest ausfechten müssen, hättest Du auf die Publikation Deines Neuen Testaments verzichtet. Etwas egoistisch sagen wir heute: Zum Glück hast Du es nicht gewusst! Du konntest also wenn nötig polemisieren, doch Dein grosses Anliegen war der Friede. Die gepflegte Sprache, der wohlformulierte Text sollten vor allem eins, nämlich der Verständigung zwischen den Menschen dienen, ja noch mehr Verständnis für sie zeigen und wecken: Humanismus als Schlüssel zur humanitas.
Das kommt gerade in Deinen Begleittexten zum Neuen Testament immer wieder zum Ausdruck, und ich glaube, wir dürfen in Deiner Liebe zur Sprache auch eine religiöse Komponente sehen: In principio erat sermo, «am Anfang war die Rede» – Jesus ist Gottes Ansprache an die Menschen. Gerne zitiertest Du als eine seiner zentralen Botschaften den Satz aus dem Matthäus-Evangelium (11,30): «Mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht». Christus will die Menschen nicht mit kaum zu erfüllenden Forderungen niederdrücken, sondern ihnen Mut machen. Das ist die gute Nachricht, die Du allen Gläubigen zugänglich machen wolltest.
Für andere das Joch leichter zu machen, war auch noch das Ziel in Deinem allerletzten Text, Deinem Testament: Du hast mit Deinem Vermögen eine Stiftung zur Unterstützung Bedürftiger und mittelloser Studenten errichtet, sozusagen das ‛Ur-Erasmus-Programm’, mit dem Dein Freund und Erbe Bonifacius Amerbach viel Gutes bewirken konnte.
Für dies alles: Danke, Erasmus!
Mit herzlichen Grüssen aus dem 21. Jahrhundert
Barbara Gygli
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Universität Basel