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2.3

Interview mit der Sängerin Tagrina

Sowohl auf der Tschuktschen-Halbinsel als auch auf der Sankt-Lorenz-Insel haben die Tschuktschen und die Sibirischen Yupik seit Dekaden ihre alte Ritualmusik, die Schamanengesänge, mehrheitlich aufgegeben. Heute wird hauptsächlich Tanzmusik gespielt. Hinweise auf den rituellen und magischen Aspekt der Musik lassen sich nur noch selten erkennen. Im Folgenden Interview spricht Tagrina, die heute in Providenyia lebt, mit Raymond Ammann über Schamanentum, traditionelle Gesänge und Tanz.

Fotografie von der Sängerin Tagrina
Die Sängerin Tagrina


Interview

«Darf ich Sie fragen, wann und wo Sie geboren wurden?»

«Ich wurde 1937 im Gebiet Walgalelen inmitten der Tundra auf der Tschuktschen-Halbinsel geboren. Heute ist dieser Ort verlassen.»

«Warum hat Ihre Familie damals nicht in einem Dorf gelebt?»

«Mein Vater, Ritak Rau, wurde von der lokalen Sowjetregierung bezichtigt, ein Schamane zu sein. Er wurde deswegen gezwungen, sein Dorf Enmelen zu verlassen. Er zog mit seiner Familie in die Tundra.»

«Gibt es in der Region auch Frauen mit schamanischen Kräften?»

«Nein, hier auf der Tschuktschen-Halbinsel konnten Frauen nicht Schamanen werden.»

«Hat Ihr Vater auch selber Lieder komponiert?»

«Er hat Lieder für spezielle Zeremonien und Feste geschrieben, und er hat für jedes seiner Kinder gleich nach der Geburt jeweils ein Lied komponiert. Diese Lieder waren dann bestimmend für das Leben.»

«Wie meinen Sie das genau?»

«Ich erkläre das am Beispiel meiner Schwester Tagrinaut. Tagrinaut heisst Sonnenschein. Der Liedtext sagt, dass Tagrinauts Vater diesen Namen gewählt hat, weil er wollte, dass ihre Schönheit scheinen soll wie die Sonne. Er wollte, dass die Leute sich an der Schönheit von Tagrinaut erfreuen können. Meine andere Schwester hiess Tagryt. Tagryt heisst Moskito, und der Liedtext sagt, dass Tagryt wie ein Moskito sei. Und leider war meine Schwester Tagryt nach der Geburt oft krank. Schliesslich starb das Mädchen, als es noch kein Jahr alt war.»

«Welches Lied hat er für Sie geschrieben?»

«Der Text sagt: ‹Dies ist ein Lied für Tagrina, die Nachfolgerin, die die Lieder ihres Vaters nicht in Vergessenheit geraten lässt. Sie wird alle Dinge wissen, die er sie lehrt›.»

«Dann sind Sie also doch Schamanin?»

«Ich habe doch gesagt, dass Frauen nicht Schamane werden können.»

«Ich verstehe. Haben Sie als kleines Mädchen schon Pic-eine’rkin gesungen?»

«Damals war es üblich, dass jedes Mädchen das Singen und Tanzen der Pic-eine’rkin erlernt. Knaben ihrerseits lernten andere Spiele oder übten sich in Wettkämpfen wie Hochspringen oder Speerwerfen.»

«Wer war Ihr Lehrer?»

«Einerseits lehrte mich meine Mutter die Pic-eine’rkin, andererseits aber auch die anderen Frauen in der Umgebung. Heute singen und tanzen nur noch wenige Frauen Pic-eine’rkin. Als ich noch ein Mädchen war, schien das Repertoire an Pic-eine’rkin unendlich gross zu sein. Heute beschränkt sich mein persönliches Repertoire auf sieben Gesänge. Dies sind wohl alle noch bekannten Pic-eine’rkin dieser Gegend.»

Wichtige Begriffe wie Arktischer Schamanismus, Schamanismus oder Animismus können im Glossar nachgeschaut werden.


Die Lieder von Tagrinas Vater


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Universität Basel